Wenn Kultur Sexualität blockiert – ein psychologisch-kultureller Blick
Sexuelle Funktionsstörungen wie Vaginismus bleiben oft im Verborgenen. Viele Betroffene sprechen nicht darüber – aus Scham, Angst oder schlicht, weil sie gar nicht wissen, was mit ihnen geschieht. Gerade in kulturellen Kontexten, in denen über Sexualität kaum offen gesprochen wird, fällt es schwer, über Themen wie Schmerzen beim Sex, Schamgefühle oder Vermeidung zu sprechen. Dabei ist genau das entscheidend: ein offener, verständnisvoller Umgang mit Symptomen, die tief in Körper und Psyche wirken.

Wir am Institut für Beziehungsdynamik
Das Berliner Institut für Beziehungsdynamik, gegründet 2006, bietet im Schwerpunkt Paartherapie, Sexualtherapie und Körperpsychotherapie an.
In unseren Sitzungen geht es darum, mit Menschen, die den Kontakt zu ihrer Sexualität verloren haben oder auch an den Herausforderungen ihrer Beziehung scheitern, zu unterstützen, sich selbst besser kennen- und verstehenzulernen. Vaginismus oder auch Scheidenkrampf genannt ist dabei einer der häufigsten sexuellen Störungen oder Probleme bei Frauen. Insbesondere kulturelle Prägungen sind dabei sehr entscheidend, wenn es um die Entstehung oder/ und Therapie geht.
Sie suchen Unterstützung im Rahmen einer Einzeltherapie/ Psychotherapie oder Paartherapie? Dann nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf.
Die stille Qual: Wenn Sexualität Angst macht
Vaginismus ist eine sexuelle Störung, bei der es durch eine reflexhafte Verkrampfung der Beckenbodenmuskulatur zu massiven Schmerzen oder einem vollständigen Verhindern der vaginalen Penetration kommt. Für viele Frauen in der Türkei stellt diese Erfahrung kein Einzelfall, sondern eine alltägliche Realität dar. In jedem Fall ist der Leidensdruck hoch – sowohl für die Frauen selbst als auch für deren Partner:innen.
Warum das so ist und wie psychologische sowie kulturelle Faktoren zusammenspielen, zeigt dieser Beitrag.
Was genau ist Vaginismus?

Vaginismus ist mehr als „nur“ ein körperliches Symptom. Es ist eine komplexe psychosomatische Reaktion. Die betroffenen Frauen erleben eine unkontrollierbare Anspannung der Muskulatur im Vaginalbereich – ausgelöst durch Angst, Scham oder andere psychische Belastungen. Die Folge: Sexualität wird mit Schmerz, Kontrolle oder sogar Gefahr verknüpft. Unterschieden wird dabei zwischen:
- Primärem Vaginismus: Die Betroffene hat noch nie eine schmerzfreie Penetration erlebt.
- Sekundärem Vaginismus: Die Beschwerden treten erst nach einer Phase unauffälliger Sexualität auf.
- Organisch bedingtem Vaginismus: Hier liegen körperliche Ursachen wie Entzündungen oder neurologische Probleme zugrunde.
Psychologische Ursachen von Vaginismus
Kognitive und lerntheoretische Perspektiven
Oft beginnt der Weg in die Sexualität mit Angst – nicht mit Lust. Gerade wenn junge Frauen mit sexuellen Mythen, strengen Moralvorstellungen und fehlender Aufklärung aufwachsen, entsteht schnell ein verzerrtes Bild von Sexualität. Die Vorstellung, dass „Sex beim ersten Mal weh tun muss“ oder dass „nur Jungfrauen ehrbar sind“, prägt Körperempfinden und Selbstbild nachhaltig.
In vielen Fällen entwickeln Betroffene eine Angst vor Schmerzen, gepaart mit einem inneren Leistungsdruck: „Ich muss funktionieren“, „Ich darf nicht versagen“. Diese Gedanken führen zu Vermeidung, was wiederum die Angst verstärkt – ein Teufelskreis, der sich ohne Hilfe kaum durchbrechen lässt.
Psychodynamische Sichtweise
Aus tiefenpsychologischer Perspektive ist Vaginismus Ausdruck innerer Konflikte. Die Betroffene möchte vielleicht Nähe erleben, doch gleichzeitig verhindern Schuldgefühle, Scham oder ungelöste Themen aus der Kindheit eine echte Hingabe. Der Körper sagt „Stopp“, obwohl der Kopf vielleicht „Ja“ sagt.
Diese körperliche Reaktion ist oft ein unbewusster Schutzmechanismus – eine Art stumme Sprache der Psyche. Das Symptom wird zur körperlichen Manifestation innerseelischer Spannungen.
Systemische Erklärung: Das Symptom im Beziehungssystem
In der systemischen Therapie wird Vaginismus nicht als isoliertes Problem der Frau gesehen. Vielmehr steht es oft im Zusammenhang mit Beziehungsdynamiken, unausgesprochenen Rollenerwartungen oder strukturellen Ungleichgewichten. Manchmal übernimmt das Symptom eine Funktion – etwa um Konflikte zu vermeiden oder emotionale Nähe zu regulieren. Sexualität wird zur Bühne, auf der unbewusste Prozesse sichtbar werden.
Zahlen, die zum Nachdenken anregen
Während in westlichen Ländern wie Dänemark oder den USA die Prävalenz von Vaginismus bei unter 10 % liegt, sind die Zahlen in der Türkei deutlich höher:
- 27 % der türkischen Frauen sind betroffen.
- In Sexualambulanzen liegt der Anteil sogar bei 75 %.
- Türkischstämmige Frauen in Europa zeigen vergleichbare Raten – ein klarer Hinweis auf die transkulturelle Dimension.

Behandlungsmöglichkeiten: Wege aus dem Kreislauf der Angst
Was hilft bei Vaginismus?
Ziel jeder Behandlung ist es, sich selbst besser kennenzulernen, darüber Angst abzubauen und Kontrolle zurückzugeben und den Körper wieder als etwas Positives zu erleben. Ein gutes therapeutisches Vorgehen kombiniert Psychoedukation, körperorientierte Übungen und Vorgehensweisen, kognitive Umstrukturierung, also eine Exploration der dahinterliegenden inneren Haltung und – wo sinnvoll – die Einbindung der Partner*innen.
Schrittweise Annäherung an den eigenen Körper
Üblicherweise geht mit Vaginismus ein sehr undifferenziertes Körperbild einher. Dieses gilt es aufzugreifen und die Wahrnehmung der eigenen Körperlichkeit, also die Körperwahrnehmung, zu verbessern. Dabei ist es in der Regel sehr hilfreich zu erfahren, wann Verspannung und Muskelspannung einsetzt oder sich intensiviert. Ziel ist es, Selbstregulation einzuüben und den eigenen Körper entspannen zu lernen.
Es folgt eine behutsame Selbstexploration: der eigene Körper darf wieder neugierig und wertfrei entdeckt werden.
In der sogenannten graduellen Exposition (die auch imaginiert werden kann) nähern sich Betroffene in kleinen, selbstbestimmten Schritten dem Ziel, Sexualität angstfrei erleben zu können – ohne Druck oder „Funktionieren müssen“.
Die Rolle der Sexualaufklärung
Ein besonders wichtiger Bestandteil der Therapie kann die Aufklärung über Anatomie und Sexualität sein. Viele Mythen – etwa der Glaube, dass das Jungfernhäutchen beim ersten Mal reißen und bluten müsse – erzeugen unnötige Angst und Unsicherheit. Hier zeigt sich der besondere Einfluss kultureller Prägungen und Einstellungen. Indem diese Irrtümer korrigiert werden, kann das Vertrauen in den eigenen Körper wachsen.
Vaginismus in der Türkei: Warum die Zahlen so hoch sind
Kultur als Risikofaktor
In der Türkei ist Sexualität teilweise stark normativ aufgeladen. Das Konzept der Jungfräulichkeit ist mancher Orts zentral: Eine Frau, die vor der Ehe sexuell aktiv ist, kann in manchen Regionen ihren sozialen Status – und im Extremfall ihr Leben – verlieren. Ehrenmorde, so erschreckend sie sind, sind teilweise nach wie vor Ausdruck dieses kollektiven Wertesystems.
Kontrolle über weibliche Sexualität
Sexualität wird nicht als etwas Eigenes, sondern als etwas Kontrolliertes verstanden. Die weibliche Sexualität gehört – symbolisch gesehen – erst dem Vater, dann dem Ehemann. Diese patriarchale Struktur vermittelt: „Du bist für den Mann da, nicht für dich selbst.“
Diese Sichtweise führt bei vielen Frauen zu einem ambivalenten Verhältnis zur eigenen Sexualität. Die eigene Lust wird unterdrückt, Sexualität mit Schuld und Angst verknüpft.
Therapie braucht kulturelles Feingefühl
Ein rein medizinischer oder westlich geprägter Therapieansatz greift hier zu kurz. Was es braucht, ist eine kultursensible Sexualtherapie, die anerkennt, dass Scham, Ehre, Familienimage und religiöse Prägungen keine Randthemen, sondern zentrale Wirkfaktoren sind.
Was kultursensible Therapie leisten kann:
- Raum geben für kulturelle Erfahrungen – ohne Urteil
- Schrittweise Enttabuisierung von Sexualität
- Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen
- Empathische Begleitung durch therapeutische Bezugspersonen, die kulturelle Codes verstehen
Fazit: Vaginismus ist keine Randerscheinung – sondern ein Spiegel gesellschaftlicher Normen
Vaginismus ist behandelbar – aber erfordert mehr als ein Symptommanagement. Es braucht ein tieferes Verständnis dafür, wie Kultur, Religion, Familie, Scham und Psyche ineinandergreifen. Die betroffenen Frauen brauchen nicht nur medizinische Versorgung, sondern vor allem Verständnis, Aufklärung und Unterstützung auf Augenhöhe.
Wir müssen lernen, offen über Sexualität zu sprechen – auch, und gerade, wenn es unangenehm wird.