Einleitung sexuelle Unlust bei Frauen
Sexuelle Unlust bei Frauen, auch bekannt als hypoaktive sexuelle Luststörung (HSDD), ist eine weit verbreitete Problematik, die erhebliche Auswirkungen auf das individuelle Wohlbefinden und die Partnerschaft haben kann. Studien zeigen, dass eine beträchtliche Anzahl von Frauen in Deutschland und weltweit von sexueller Unlust betroffen sind. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen, Diagnostik und therapeutischen Ansätze dieser Störung, der sexuellen Unlust bei Frauen. Seit 2006 bieten wir am Berliner Institut für Beziehungsdynamik Sexualtherapie und Paartherapie bei sexuellen Problematiken an. Sexuelle Unlust bei Frauen zählt zu den häufigsten Problemen, für die Unterstützung aufgesucht wird.
Sexuelle Unlust bei Frauen: Häufigkeit/ Prävalenz
Laut einer globalen Studie von Nappi et al. (2016) leiden etwa 32 % der Frauen weltweit an sexueller Unlust (Quelle). In Deutschland zeigt eine Umfrage von Klusmann (2002), dass etwa 43 % der Frauen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren zeitweise oder dauerhaft ein vermindertes sexuelles Verlangen erleben (Quelle). Das Bundesgesundheitsministerium (2020) berichtet, dass etwa 20 % der Frauen im Alter von 18 bis 29 Jahren, 28 % der Frauen im Alter von 30 bis 49 Jahren und 35 % der Frauen im Alter von 50 bis 65 Jahren sexuelle Unlust verspüren. Diese Prävalenzraten unterstreichen die Bedeutung dieses Themas für das individuelle Wohlbefinden und die partnerschaftliche Zufriedenheit.
Diagnostik der hypoaktiven sexuellen Luststörung/ sexuellen Unlust bei Frauen
Die Diagnostik der hypoaktiven sexuellen Luststörung erfolgt anhand der Kriterien des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5) und der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11). Laut DSM-5 muss die Frau mindestens sechs Monate lang an einem verminderten oder fehlenden Interesse an sexuellen Aktivitäten leiden, was erheblichen Leidensdruck oder interpersonelle Probleme verursacht.
Die Diagnostik erfordert eine umfassende Anamnese, um biologische, psychologische und soziokulturelle Faktoren zu identifizieren. Ein strukturiertes klinisches Interview kann helfen, das Ausmaß und die Auswirkungen der sexuellen Unlust zu beurteilen. Auch die Einbeziehung des Partners in die Diagnose kann wertvolle Einblicke in die Beziehung und die Kommunikationsmuster geben.
Sexuelle Unlust im ICD11
Laut der neuen ICD-11-Klassifikation wird sexuelle Unlust bei Frauen unter der Kategorie “Dysfunktion des sexuellen Verlangens und der sexuellen Erregung” eingeordnet. Wichtige Punkte zur Diagnose nach ICD-11 sind:
- Das sexuelle Problem muss über einen längeren Zeitraum (mehrere Monate) anhaltend oder wiederkehrend auftreten.
- Es muss häufig vorkommen und mit klinisch bedeutsamem Leiden einhergehen.
- Die ICD-11 verwendet Spezifizierungen (“qualifier”), um zusätzliche Informationen zu liefern, z.B. ob die Dysfunktion lebenslang besteht oder erst später aufgetreten ist
Sexuelle Unlust bei Frauen: Wissenschaftliche Perspektiven und Studien
Studien zeigen, dass sexuelle Unlust eine weit verbreitete Problematik ist. Eine Untersuchung von Shifren et al. (2008) ergab, dass etwa 10 % der Frauen im gebärfähigen Alter und bis zu 50 % der postmenopausalen Frauen unter sexueller Unlust leiden (Quelle). Weitere Studien weisen darauf hin, dass die sexuelle Unlust oft mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen assoziiert ist (Laumann et al., 1999) (Quelle).
Die wissenschaftliche Diskussion über sexuelle Unlust umfasst auch die Frage, ob es sich um eine eigenständige Störung oder ein Symptom anderer psychischer oder physischer Probleme handelt.
Leidensdruck bei sexueller Unlust
Bei sexueller Unlust der Frau kann sich der Leidensdruck auf verschiedene Weisen manifestieren:
Emotionale Belastung:
- Gefühle von Frustration, Scham oder Schuld aufgrund der fehlenden sexuellen Lust
- Sorgen um die Beziehung und mögliche negative Auswirkungen auf den Partner
- Vermindertes Selbstwertgefühl oder Zweifel an der eigenen Attraktivität
Beziehungsprobleme:
- Spannungen oder Konflikte in der Partnerschaft aufgrund unterschiedlicher sexueller Bedürfnisse
- Gefühl, den Partner zu enttäuschen oder zurückzuweisen
- Angst vor dem Verlust der emotionalen Intimität
Psychische Belastung:
- Stress und Anspannung durch den Druck, sexuell aktiv sein zu müssen
- Ängste vor sexuellen Situationen oder Vermeidungsverhalten
- Depressive Verstimmungen aufgrund der Situation
Auswirkungen auf die Lebensqualität:
- Einschränkung des allgemeinen Wohlbefindens
- Verlust von Lebensfreude und Spontaneität in der Beziehung
- Gefühl der Unvollständigkeit oder des Verpassens einer wichtigen Lebensdimension
Körperliche Beschwerden:
- Unangenehme Empfindungen oder Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, die zu weiterem Vermeidungsverhalten führen können
- Psychosomatische Symptome als Folge der emotionalen Belastung
Es ist wichtig zu betonen, dass nicht jede Frau, die weniger sexuelle Lust verspürt, automatisch unter Leidensdruck steht. Der Leidensdruck entsteht oft erst dann, wenn die verminderte Lust als Problem wahrgenommen wird, sei es durch eigene Erwartungen oder den Druck des Partners oder der Gesellschaft. Eine offene Kommunikation in der Partnerschaft und gegebenenfalls professionelle Unterstützung können helfen, den Leidensdruck zu reduzieren und gemeinsam Lösungen zu finden.
Sexuelle Unlust bei Frauen: Wir am Institut für Beziehungsdynamik
Wir am Institut für Beziehungsdynamik bieten Paartherapie und Sexualtherapie bei sexueller Unlust an. Wichtig dabei ist, dass wir uns dabei nicht der Förderung der sexuellen Lust verpflichtet sehen. Wir gehen davon aus, dass Frauen, die unsere Unterstützung aufsuchen, in der Regel einen gewissen Leidensdruck mitbringen und zudem “gute Gründe” für sexuelle Unlust haben. Diese gilt es für uns zu identifizieren und zu würdigen.
Gunter Schmidt über sexuelle Unlust bei Frauen
1998 berichtet der bekannte Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt aus Hamburg in einem Artikel in der Familiendynamik mit dem Titel “Wir sehen immer mehr Lustlose!” darüber, dass die relative Symptomhäufigkeit bei der Klassifikation sexueller Symptome hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten (von 1978 bis 1998) dramatisch verändert hat. Die Zunahme des Anteils sexueller Unlust (bei Frauen von 8 % auf 58 %, bei Männern von 4 % auf 16 %) erklärt der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt damit, dass Patient*innen wie Therapeut*innen heute weniger die sexuelle Funktion als die sexuellen Wünsche in den Vordergrund stellen (Quelle). Schmidt sieht die Lustlosigkeit oder sexuelle Unlust paardynamisch polarisiert und geschlechtsspezifisch zugespitzt, indem die Frauen das Desinteresse und die Männer den Trieb “übernehmen”. Die Ursachen sexueller Unlust bei Frauen analysiert Schmidt aus soziologischer Perspektive und fasst sie in fünf Thesen zusammen:
- Emanzipation schafft den Freiraum für Lustlosigkeit: Die zunehmende Emanzipation der Frau ermöglicht es, sexuelle Unlust zu thematisieren und zu akzeptieren. Nachdem Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 nach jahrzehntelangen Debatten und Reformversuchen in Deutschland als Straftat anerkannt wurde, war sexuelle Unlust bei Frauen zuvor schlichtweg kein akzeptabler Aspekt.
- Moderne Beziehungsstrukturen und Beziehungsideale machen die “natürliche” Lustlosigkeit/ sexuelle Unlust und sexuelle Langeweile schwer erträglich: Die hohen Erwartungen an romantische Beziehungen tragen dazu bei, dass sexuelle Langeweile als problematischer empfunden wird.
- Wünsche werden knapp: In einer Gesellschaft, in der alles verfügbar scheint, werden echte Wünsche selten und wertvoll. Sexuelle Unlust bei Frauen wird vor diesem Hintergrund zum Ausdruck des Verdrusses beim verfügbaren Überfluss.
- Sexuelle Langeweile oder auch sexuelle Unlust (bei Frauen) spiegelt die Abwendung von einer mechanischen und biologisierenden und die Hinwendung zu einer psychologisierenden und ästhetisierenden Sichtweise der Sexualität wider: Die Sicht auf Sexualität hat sich verändert, weg von einer rein funktionalen hin zu einer emotionalen und ästhetischen Perspektive.
- Tabuisierung der Sexualität erstickt Erotik und Leidenschaft: Gesellschaftliche Tabus verhindern eine offene und erfüllte sexuelle Ausdrucksweise (Quelle).
Sexuelle Unlust bei Frauen – mögliche Ursachen
Die Ursachen für sexuelle Unlust bei Frauen sind immer vielfältig und können biologischer, psychologischer und soziokultureller Natur sein. In der Regel gibt es nicht die eine Ursache für die sexuelle Unlust bei Frauen, sondern ein Ursachengeflecht, ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Wir am Institut für Beziehungsdynamik gehen üblicherweise mit unseren Klient*innen nicht auf Ursachensuche, da wir in der Regel hier keine Lösung für sexuelle Unlust finden. Wir fokussieren stattdessen auf das innere Erleben und werben für Akzeptanz innerer Widersprüche.
Verschiedene Faktoren als Ursachen
Hier wollen wir einige Faktoren darstellen, die sexuelle Unlust bei Frauen bedingen können.
Biologische Faktoren
Biologische Faktoren, die sexuelle Unlust verursachen können, umfassen hormonelle Veränderungen, insbesondere während der Menopause, nach der Geburt oder aufgrund von endokrinen Störungen wie dem polyzystischen Ovarialsyndrom (PCOS). Auch chronische Erkrankungen wie Diabetes oder kardiovaskuläre Erkrankungen können die Libido beeinflussen.
In einigen dieser Fälle kann eine medizinische Behandlung sinnvoll sein. Hormontherapien, wie die Östrogen- oder Testosterontherapie, können helfen, hormonelle Ungleichgewichte auszugleichen. Auch die Behandlung von zugrunde liegenden chronischen Erkrankungen kann das sexuelle Verlangen verbessern.
Psychologische Faktoren
Psychologische Ursachen sind häufig und umfassen Stress, Depressionen, Angststörungen und Traumata. Frauen, die in der Vergangenheit sexuelle Übergriffe erlebt haben, können eine Abneigung gegen sexuelle Aktivitäten entwickeln. Auch negative Erfahrungen in der Partnerschaft und mangelnde Kommunikation über sexuelle Bedürfnisse können zu sexueller Unlust bei Frauen führen. Sexuelle Unlust hängt oft mit psychischen Belastungen und dem Druck, sexuellen Erwartungen gerecht zu werden, zusammen. Wie oben beschrieben weis der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt darauf hin, dass die gesellschaftlichen und partnerschaftlichen Bedingungen entscheidend sind, um das sexuelle Verlangen aufrechtzuerhalten oder zu verringern (Quelle).
Soziokulturelle Faktoren
Soziokulturelle Faktoren, wie kulturelle Normen und Erwartungen, beeinflussen ebenfalls das sexuelle Verlangen. Gesellschaftliche Tabus und mangelnde sexuelle Aufklärung können Frauen daran hindern, eine gesunde Sexualität zu entwickeln. Zudem können negative Körperbilder und der Druck, bestimmten Schönheitsidealen zu entsprechen, das sexuelle Verlangen mindern.
Psychotherapie, Paartherapie und Sexualtherapie
Leiden Frauen unter sexueller Unlust, dann zeigt sich eine Psychotherapie in der Regel als hilfreich. Hier kann es darum gehen, negative Denkmuster und Verhaltensweisen zu verändern. Eine Sexualtherapie zielt darauf ab, Bedingungen des sexuellen Verlangens und Begehrens zu explorieren und zu fördern.
Am Berliner Institut für Beziehungsdynamik bieten wir seit 2006 Sexualtherapie und Paartherapie an, um Frauen und Paaren bei sexuellen Problematiken zu helfen. Unsere beziehungsdynamische Sexualtherapie und Paartherapie integriert tiefenpsychologische und systemische Ansätze, um die zugrunde liegenden Beziehungsmuster und inneren Konflikte zu verstehen und zu bearbeiten.
Paartherapie bei sexueller Unlust
Eine Paartherapie kann helfen, die Beziehungsmuster, die zur sexuellen Unlust beitragen, zu identifizieren und zu überwinden. Auch ist es möglich, in einer Paartherapie durch verbesserte Kommunikation den partnerschaftlichen Druck zu mindern, der in der Regel sexuelle Unlust bedingt und steigert. Übungen zur Steigerung von Intimität und Vertrauens sind ebenfalls wichtige Bestandteile einer Paartherapie. Wenn Sie Unterstützung im Rahmen einer Paartherapie am Institut für Beziehungsdynamik suchen, dann nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf.
Das Dual-Control-Modell – Anwendung bei sexueller Unlust von Frauen
Das Dual-Control-Modell von Bancroft und Janssen (2000) betont die Bedeutung von sexuellen Erregungs- und Hemmungsmechanismen, die durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden können (Quelle). In vielen neueren Publikationen wird es gerne als Modell , vor allem bei sexueller Unlust angewendet. Das Dual-Control-Modell ist ein sehr hilfreiches Werkzeug zur Erklärung sexueller Unlust bei Frauen. Es basiert auf der Interaktion zwischen zwei neurophysiologischen Systemen: dem sexuellen Erregungssystem (SES) und dem sexuellen Hemmungssystem (SIS). Diese Systeme beeinflussen das sexuelle Verhalten und Erleben durch das Gleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung.
Erregungs- und Hemmungsfaktoren
Das SES reagiert auf sexuelle Reize und fördert die sexuelle Erregung. Das SIS reagiert auf potenzielle Bedrohungen oder negative Konsequenzen und hemmt die sexuelle Erregung.
Frauen können sich in ihrer Sensitivität gegenüber diesen Systemen unterscheiden. Hohe Hemmungswerte können zu sexueller Unlust führen, insbesondere wenn negative Erfahrungen oder Ängste vorherrschen.
Therapeutische Ansätze auf Grundlage des Dual-Control-Modells
In der Sexualtherapie wird oft versucht, hemmende Faktoren zu identifizieren und zu reduzieren. Dies kann durch Desensibilisierung, Angstabbau und die Förderung von Kommunikation und Nähe zwischen Partnern geschehen. Ein weiterer Ansatz ist die Förderung von positiven sexuellen Erfahrungen, um das Erregungssystem zu stärken und die Balance zwischen Erregung und Hemmung wiederherzustellen. Dies kann beispielsweise durch Erforschung sexueller Fantasien und Bedürfnisse geschehen. Die Bewertung und der Kontext spielen eine wesentliche Rolle. Frauen können lernen, ihre sexuellen Kontexte eigenverantwortlich zu gestalten, um hemmende Einflüsse zu minimieren und erregende Einflüsse zu maximieren
Das DCM bietet somit einen umfassenden Rahmen, um sexuelle Unlust bei Frauen zu verstehen und therapeutisch anzugehen, indem es die Balance zwischen sexueller Erregung und Hemmung in den Mittelpunkt stellt.
Fazit
Sexuelle Unlust bei Frauen ist eine komplexe und multifaktorielle Problematik, die eine umfassende und individualisierte Behandlung erfordert. Biologische, psychologische und soziokulturelle Faktoren spielen eine wesentliche Rolle und sollten bei der Diagnostik und Therapie berücksichtigt werden. Am Berliner Institut für Beziehungsdynamik bieten wir spezialisierte Sexualtherapie und Paartherapie an, um Frauen und Paaren zu helfen, ihre sexuelle Zufriedenheit und ihr Wohlbefinden zu verbessern.
Wenn Sie oder Ihre Partnerin unter sexueller Unlust leiden, zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren.
Referenzen
- Bancroft, J., & Janssen, E. (2000). Das Dual-Control-Modell der männlichen sexuellen Reaktion: Ein theoretischer Ansatz zur zentralvermittelten erektilen Dysfunktion. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 24(4), 517-529.
- Laumann, E. O., Paik, A., & Rosen, R. C. (1999). Sexuelle Funktionsstörungen in den USA: Prävalenz und Prädiktoren. JAMA, 281(6), 537-544.
- Nappi, R. E., Martini, E., Terreno, E., Albani, F., Santamaria, V., & Tonani, S. (2016). Management der hypoaktiven sexuellen Luststörung bei Frauen: aktuelle und aufkommende Therapien. International Journal of Women’s Health, 8, 519-532.
- Shifren, J. L., Monz, B. U., Russo, P- A., Segreti, A., & Johannes, C. B. (2008). Sexuelle Probleme und Belastungen bei Frauen in den USA: Prävalenz und Korrelate. Obstetrics & Gynecology, 112(5), 970-978.
- Schmidt, G. (1998). Sexualität und Partnerschaft. In: Grundlagen der Sexualmedizin. Springer, Berlin, Heidelberg.
- Bundesgesundheitsministerium. (2020). Gesundheit in Deutschland – Statusbericht.