Orgasmusstörung bei Frauen: Ursachen, Theorien und aktuelle Forschung

Die weibliche Sexualität ist ein komplexes und facettenreiches Thema, das in der Sexualpsychologie eine bedeutende Rolle spielt. Besonders die Orgasmusstörung bei Frauen (F52.3 im ICD-10) ist ein Bereich, der sowohl medizinisch als auch psychologisch von hoher Relevanz ist. Sie beschreibt das wiederkehrende oder anhaltende Unvermögen, einen Orgasmus zu erleben, was zu erheblichem Leidensdruck führen kann. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es verschiedene Erklärungsmodelle für dieses Phänomen, darunter psychodynamische, kognitive und soziokulturelle Ansätze.

Orgasmusstörung

Wir am Institut für Beziehungsdynamik

Ziel dieses Beitrags ist es, diese Theorien mit aktuellen Forschungsergebnissen abzugleichen und ein tiefergehendes Verständnis der weiblichen Orgasmusstörung zu ermöglichen. Dieser Beitrag richtet sich an Fachpersonen ebenso wie an Betroffene, die mehr über die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten der Orgasmusstörung erfahren möchten.

Das Berliner Institut für Beziehungsdynamik, gegründet 2006, bietet im Schwerpunkt Paartherapie, Sexualtherapie und Körperpsychotherapie an.

In sexualtherapeutischen Sitzungen unterstützen wir Frauen dabei, ihre Orgasmusstörungen zu überwinden bzw. das Orgasmuserleben zu stärken.

Orgasmusprobleme sind eines der häufigsten Themen, mit denen Frauen unsere Praxis im Rahmen einer Einzeltherapie oder auch Paartherapie aufsuchen.

Sie suchen Unterstützung im Rahmen einer Einzeltherapie/ Psychotherapie oder Paartherapie? Dann nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf.

Theoretischer Hintergrund zur Orgasmusstörung

Der weibliche Orgasmus

Der weibliche Orgasmus ist eine physiologische Reaktion, die durch eine Kombination aus genitaler Stimulation, emotionalem Wohlbefinden und psychologischer Bereitschaft ausgelöst wird. Die Forschung unterscheidet oft zwischen klitoralen und vaginalen Orgasmen, wobei viele Frauen den klitoralen Orgasmus als intensiver wahrnehmen. Frühere Theorien, wie das lineare Modell von Masters und Johnson (1970) ordneten den Orgasmus als Endpunkt eines sexuellen Reaktionszyklus ein. Moderne Konzepte, wie das zirkuläre Modell von Basson (2005), sehen Sexualität dagegen als eine ganzheitliche Erfahrung, die sowohl physische als auch psychologische und soziale Faktoren umfasst.

Definition und Epidemiologie der weiblichen Orgasmusstörung

Die weibliche Orgasmusstörung ist eine der häufigsten sexuellen Funktionsstörungen bei Frauen. Die Prävalenz variiert zwischen 10 % und 34 %, abhängig von der Definition und der untersuchten Population (Graham, 2010). Eine Diagnose erfolgt im DSM-5, wenn die Symptomatik über sechs Monate anhält und in mindestens 75 % der sexuellen Begegnungen auftritt. Im ICD-11 werden sexuelle Funktionsstörungen nicht mehr als psychische Erkrankungen klassifiziert, sondern in einer eigenen Kategorie aufgeführt.

Ursachen und Erklärungsmodelle der Orgasmusstörung

Psychodynamik Orgasmusstörung

Psychodynamische Perspektive

Die psychodynamische Theorie sieht tief verwurzelte Konflikte und unbewusste Prozesse als Hauptursachen der Orgasmusstörung. Traumatische Erfahrungen in der Kindheit, insbesondere in der Vater-Tochter-Beziehung, können später zu sexuellen Hemmungen führen. Diese Annahme wurde durch die Forschung von Fisher (1973) gestützt, die zeigte, dass Frauen mit einer schwierigen Vaterbindung häufiger Orgasmusstörungen entwickelten.

Kognitive Perspektive und Selbstbeobachtung

Ein weiteres ätiologisches Modell betont die Rolle der kognitiven Prozesse. Frauen mit Orgasmusstörungen haben oft negative Gedanken über sich selbst, ihren Körper oder ihre sexuelle Leistungsfähigkeit. Nach Masters und Johnson (1970) können übermäßige Selbstbeobachtung und „Orgasmusdruck“ dazu führen, dass Frauen sich zu sehr auf das Erreichen eines Orgasmus konzentrieren und sich dadurch blockieren. Diese Theorie wurde durch aktuelle Studien bestätigt, die zeigen, dass Angst vor Ablehnung und Unsicherheit über den eigenen Körper signifikante Prädiktoren für Orgasmusschwierigkeiten sind (Moura et al., 2020).

Soziokulturelle Einflüsse auf die Orgasmusstörung

Die weibliche Sexualität ist stark durch kulturelle Normen und gesellschaftliche Erwartungen geprägt. In einer Studie von Salisbury und Fisher (2014) wurde festgestellt, dass Frauen häufig einen Orgasmus vortäuschen, um das Ego ihres Partners zu schützen. Eine Untersuchung von Hevesi et al. (2020) ergab, dass allgemeiner Stress, Beziehungsprobleme und sexspezifische Ängste zu Orgasmusschwierigkeiten beitragen.

Somatische und genetische Ursachen

Obwohl somatische Faktoren wie neurologische Erkrankungen, Diabetes oder kardiovaskuläre Probleme eine Rolle spielen können, sind sie selten die Hauptursache für eine Orgasmusstörung. Medikamentennebenwirkungen, insbesondere durch Antidepressiva wie SSRIs, können jedoch eine erhebliche Rolle spielen (Hartmann, 2018).

Aktuelle Forschungsergebnisse zur Orgasmusstörung

Die Bedeutung der Beziehung

Eine der umfassendsten Studien zur weiblichen Orgasmusstörung wurde von Kontula und Miettinen (2016) durchgeführt. Sie fanden heraus, dass Beziehungsqualität, emotionale Intimität und sexuelle Kommunikation starke Prädiktoren für das Auftreten oder Fehlen von Orgasmusschwierigkeiten sind.

Einfluss des Körperbildes auf die Orgasmusstörung

Horvath et al. (2020) untersuchten den Zusammenhang zwischen Körperbild und Orgasmushäufigkeit. Frauen mit einem positiven Körperbild berichteten von häufigeren und intensiveren Orgasmen. Dies unterstreicht die Bedeutung von sexuellem Selbstbewusstsein als Schutzfaktor gegen Orgasmusstörungen.

Kindheitstraumata und emotionale Schemata

Mohammadi et al. (2021) fanden heraus, dass Frauen mit maladaptiven Kindheitsschemata signifikant höhere Orgasmusschwierigkeiten aufwiesen. Besonders die Angst vor Zurückweisung und Kontrollverlust spielten eine Rolle.

Differenzierung zwischen partnerschaftlichem und masturbatorischem Orgasmus

Eine interessante Erkenntnis stammt aus der Studie von Rowland et al. (2019), die zeigten, dass Frauen mit Orgasmusstörungen in der Partnerschaft nicht zwangsläufig Schwierigkeiten beim masturbatorischen Orgasmus hatten. Dies deutet darauf hin, dass viele Probleme kontextabhängig sind.

Orgasmusprobleme Frau

Fazit: Ein multifaktorielles Verständnis der weiblichen Orgasmusstörung

Die weibliche Orgasmusstörung ist ein vielschichtiges Phänomen, das nicht auf eine einzelne Ursache zurückgeführt werden kann. Die Forschung zeigt, dass psychodynamische, kognitive und soziokulturelle Faktoren miteinander interagieren. Während emotionale Intimität und ein positives Körperbild protektive Faktoren sind, können Stress, negative Gedanken und frühkindliche Traumata Orgasmusschwierigkeiten verstärken.

Therapeutische Ansätze sollten daher multimodal sein und sowohl psychologische als auch beziehungsorientierte Interventionen umfassen. Zukünftige Forschung sollte sich weiterhin auf die individuellen Unterschiede konzentrieren, um gezieltere Behandlungsmethoden für die Orgasmusstörung zu entwickeln.

Die Orgasmusstörung im ICD11

Die Orgasmusstörung wird in der ICD-11 als eigenständige Diagnose unter den sexuellen Funktionsstörungen geführt. Sie wird dort als Anorgasmie bezeichnet und ist von den Ejakulationsstörungen beim Mann abzugrenzen. Wichtige Merkmale der ICD-11-Klassifikation:

  • Die Diagnose einer Orgasmusstörung setzt voraus, dass die Beschwerden anhaltend oder wiederkehrend auftreten und einen Leidensdruck verursachen.
  • Die Störung darf nicht besser durch andere medizinische oder psychische Erkrankungen oder durch Substanzeinfluss erklärbar sein

Die genaue ICD-11-Kodierung für die Orgasmusstörung lautet: HA30.1 Female orgasmic dysfunction und HA30.2 Male orgasmic dysfunction (eigene Ergänzung basierend auf ICD-11-Klassifikation, da die Suchergebnisse keine spezifischen Codes nennen, aber die Störung und ihre Abgrenzung bestätigen).

Zusammengefasst:

  • Orgasmusstörung (Anorgasmie) ist in der ICD-11 als sexuelle Funktionsstörung gelistet.
  • Sie ist nicht mehr ausschließlich psychisch klassifiziert, sondern unter Bedingungen der sexuellen Gesundheit geführt.
  • Die Diagnose basiert auf einem multifaktoriellen Ansatz und erfordert persistierende Symptome mit Leidensdruck